Landesweiter Fachtag zu Fetalen Alkoholspektrumstörungen (FASD) bei Kindern und Jugendlichen in der Jugendhilfe

Große Resonanz am landesweiten Fachtag, der am 27. Juli 2022 in der Sparkassenakademie Stuttgart stattfand, zeigt das gesamtgesellschaftlich sehr relevante Thema, das in der Öffentlichkeit noch nicht hinreichend bekannt ist.

Alkoholkonsum in der Schwangerschaft beeinträchtigt die Gesundheit des ungeborenen Kindes und gilt als Auslöser dauerhafter Entwicklungsstörungen. In der Praxis ist es oft schwierig, Fetale Alkoholspektrumstörungen (FASD) zu erkennen, den Betroffenen gerecht zu werden und professionell zu agieren.

Was tun bei FASD? Der landesweite Fachtag des KVJS Landesjugendamtes, organisiert von Irma Wijnvoord (KVJS Landesjugendamt, Referat 43) und Sandra Kopietz (KVJS Landesjugendamt, Referat 42), ver­mittelte wichtige wissenschaftliche Erkenntnisse und zeigte auf, welche pädagogischen Anforderungen daraus resultieren. Darüber hinaus wurde der Blick auf die konkrete Situation in Baden-Württemberg gerichtet und diskutiert. Neben Vorträgen luden Fachforen dazu ein, sich vertiefend zu informieren und sich miteinander auszutauschen.

„Nur ein Gläschen Sekt – das mag vielleicht nach wenig klingen. In der Schwangerschaft aber kann dieses eine Gläschen schon genug sein. Genug, um sein ungeborenes Kind dauerhaft körperlich und geistig zu schädigen. Die fetale Alkohol-Spektrum-Störung, kurz: FASD, ist eine der häufigsten angeborenen Erkrankungen und gleichzeitig ist sie zu 100 Prozent vermeidbar!“ leitete Kristin Schwarz, Verbandsdirektorin des KVJS- Landesjugendamtes in die Veranstaltung ein und begrüßte Manfred Lucha, Minister für Soziales, Gesundheit und Integration, die anwesenden Referenten sowie die rund 350 Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Fachtags.

In Deutschland werden schätzungsweise mehr als 10.000 Kinder pro Jahr mit fetalen Alkohol-Spektrum-Störungen geboren. Alkohol in der Schwangerschaft kann verschiedenste Beeinträchtigungen und irreparable Hirnschäden beim Kind hervorrufen: Fehlbildungen, Entwicklungsstörungen, massive Verhaltensauffälligkeiten und geistige Behinderungen sind die Folge.

Der Bedarf an Aufklärung und Beratung ist landesweit sehr groß – sowohl für betroffene Familien als auch für Institutionen. Das zeigte vor allem auch das vom KVJS Landesjugendamt geförderte Modellvorhaben „FASD-Hilfe“ sehr eindrucksvoll.

„Wir sind eine Gesellschaft, die sich sehr schwer tut mit Verzicht. Es gibt eine klare Botschaft, wann man die Finger von Drogen lassen sollte. Es stehen weiterhin Gelder zur Verfügung, um die richtigen diagnostischen Wege einzuschlagen und professionelle Angebote in Anspruch zu nehmen“. Diese einleitenden Worte Luchas lieferten die Gesprächsgrundlage für die anschließenden Vorträge der Referenten und Experten Dr. rer. medic. Reinhold Feldmann (Tagesklinik Walstedde, FASD-Ambulanz), Gisela Michalowski (FASD Deutschland e. V., Lingen) und Christiane Schute (Fazit-Jugendhilfe, Regionalbüro Heilbronn). Durch die Moderation führte Tina Tanšek (Diplom-Psychologin, Autorin und Moderatorin).

Dr. Feldmann referierte über die Ursachen, Symptomatik, den Verlauf und Hilfen der fetalen Alkoholspektrumstörung. Bei nur einem Glas Alkohol pro Woche wird das Kind krank, da in den gesamten 9 Monaten der Entwicklung das Gehirn nachhaltig geschädigt wird. Alkohol wirkt als Mitosegift wachstumshemmend und führt prä- und postpartal zu Wachstumsstörungen des Gehirns und des gesamten Körpers. Eine Heilung dieser schweren Behinderungen ist nicht möglich. Die große Mehrzahl der Betroffenen ist nicht zu einer eigenständigen Lebensführung in der Lage und benötigt dauerhafte Unterstützung und Begleitung, die mit sehr hohen Kosten verbunden ist. Deshalb ist es unentbehrlich Aufklärungsarbeit zu leisten bei z.B. Gynäkologen oder in Schulen. Hilfsmaterial findet man breit gefächert, auch für selbst geschädigte Kinder.  

Bezüglich der Perspektive für Menschen mit FASD gab Michalowski – Vorsitzende von FASD Deutschland, Sozialpädagogin und gleichzeitig Pflegemutter von Pflegekindern mit FASD – die Einblicke und Ausblicke von betroffenen Personen wieder. Liebevoll nennt Sie ihre Tochter „Duracellchen“ und berichtet, daß das kalendarische Alter der Betroffenen nicht dem Lebensalter entspricht. Sie sind sehr autark, gutgläubig, gelten als faul und unmotiviert, haben einen hohen Kontrollzwang und lernen nicht aus Erfahrungen – kein Tag ist wie der andere, es gibt immer eine neue Überraschung.
Doch was benötigt es, um Perspektiven zu schaffen? Die Grundlage dafür ist die „Kenntnis“ über das Behinderungsbild FASD und deren Prävention. Wichtig ist es in erster Linie für die Betroffenen, die Krankheit FASD medizinisch abzuklären und Aufnehmende aufzuklären. Es gibt viele unterschiedliche Hilfsangebote wie z.B. die Wahl des Kindergartens, der Schule, der Berufswahl und Eingliederung, für den Bereich Wohnen etc.

Als Vertreterin von „FAZIT – Gesellschaft für lösungsorientierte Jugendhilfe mbH Stuttgart“ gab Schute einen Einblick über die Angebote, Erfahrungen und den Ausblick von FASD in Baden-Württemberg. Egal wie ausgeprägt die Behinderung ist: FASD ist nicht „ich will nicht“, sondern „ich kann nicht!“, deshalb brauchen Betroffenen unsere wohlwollende Unterstützung. Sie betont „jeder junge Mensch ist einzigartig, hat nicht jedes Symptom und bringt viele konstruktive Fähigkeiten mit, wie z.B. Kreativität, Freundlichkeit, Hilfsbereitschaft, Vertrauensseligkeit, Redegewandtheit etc. – deshalb ist FASD nicht gleich FASD!“
Ziel des Modellprojektes „FASD Hilfe“ ist vor allem die Perspektivenentwicklung für Menschen mit FASD in Baden-Württemberg, das zunehmende Wissen und Verstehen von FASD, den Alltag und das Zusammenleben mit den Betroffenen zu erleichtern und eine grundlegende Haltungsänderung im Umgang mit Menschen mit FASD.

FASD ist eine Mehrfachbehinderung und wird ab Geburt anerkannt. Menschen mit FASD wird nicht mehr ein „Will nicht“ unterstellt, sondern ein „Kann nicht“!

Im Anschluss an die Vorträge stellte die Moderatorin Tanšek ein Fallbeispiel in Form eines Interviews mit Margarete Fischer, Pflegemutter aus Horb, vor. Fischer berichtet über das Zusammenleben und den Erfahrungen mit ihrem Pflegesohn Ben, der an einer FASD Erkrankung leidet. Es gibt Höhen und Tiefen berichtet sie, vor allem während Corona 2020 fiel für ihr Sohn plötzlich der Alltag weg, die Sicherheit durch Schule und wiederkehrende Rituale waren nicht mehr da. Hinzu kam, daß ihr Sohn in die Pubertät kam, er hat versucht, sich von seiner Mutter abzugrenzen, was dann „explodiert ist und nicht mehr handle bar war“.

Am Nachmittag standen insgesamt neun Fachforen zu den Themen Frühe Hilfen, Kindertageseinrichtungen, Kindertagespflege, ambulante und stationäre Hilfen zur Erziehung, Pflegekinderwesen, Adoptionsvermittlung, Allgemeiner Sozialdienst  und Jugendhilfe im Strafverfahren  zur Auswahl, die im Anschluss an die Vorträge den Teilnehmerinnen und Teilnehmern die Möglichkeit gaben, sich vertiefend zu informieren und in gegenseitigen Austausch zu gehen.

Während des Fachtages präsentierte sich im Foyer die Wanderausstellung „ZERO! – Alkohol in der Schwangerschaft“. Zudem stellten verschiedene FASD-Selbsthilfegruppen ihre Arbeit näher vor.

Was war hilfreich und wichtig? Was konnten die Teilnehmenden mitnehmen?
Die Teilnehmenden der Veranstaltung äußerten sich durchweg positiv über die gelungene Veranstaltung. Hervorzuheben war das erreichte Ziel, sich vertiefend über FASD zu informieren und in gegenseitigen Austausch zu kommen. Es wurden neue Perspektiven eröffnet, gute Impulse mitgenommen und durch die neuen Erkenntnisse dazu angeregt, die pädagogischen Anforderungen anzupassen und mehr Aufklärungsarbeit bezüglich FASD zu leisten.