Zukunft gestalten: Demokratiebildung
Zukunftsfähige Strategien im Umgang mit der Systemkrise

Jahrestagung der Träger und Leitungen von Einrichtungen und sonstigen betreuten Wohnformen der Hilfe zur Erziehung in der Ev. Tagungsstätte Bad Boll

Stellvertretend für Gerald Häcker (Dezernatsleiter KVJS-Landesjugendamt) wurde die diesjährige Tagung von Michael Riehle (Referatsleiter Hilfe zur Erziehung, KVJS-Landesjugendamt) mit einem Überblick zu aktuellen Entwicklungen in der Kinder- und Jugendhilfe (KJH) eröffnet. Besonders hervorgehoben wurde die Zukunftsfähigkeit der KJH in Baden-Württemberg sowie die Notwendigkeit einer ressourcenorientierten Gestaltung der Angebote. „Demokratiebildung, Selbstvertretung, Partizipation und Beteiligung sind der Schlüssel, um den Kindern und Jugendlichen, die in unseren Einrichtungen leben, eine Stimme zu geben und sie aktiv in Entscheidungsprozesse einzubeziehen“, unterstrich Michael Riehle.

Zum Einstieg wurden in einer offenen Gesprächsrunde zentrale Herausforderungen identifiziert und diskutiert. Dazu zählte insbesondere die Notwendigkeit einer verstärkten Zusammenarbeit zwischen öffentlichen und freien Trägern im Bereich der Daseinsvorsorge. Die Refinanzierung und die Gestaltung von Gruppengrößen für junge Menschen mit herausforderndem Verhalten stellen weiterhin eine Herausforderung dar. Die Zusammenarbeit zwischen Jugendhilfe, Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie psychiatrischer Institutsambulanz muss optimiert werden.

Die Kommission Kinder- und Jugendhilfe, vertreten durch Benjamin Lachat (Städtetag BW, Stv. Vorsitzender der KKJH) stellte aktuelle Vorhaben zur Verbesserung der Rahmenbedingungen für (teil-)stationäre Einrichtungen vor. Schwerpunktthemen waren der Fachkräftemangel, intensive Lobbyarbeit sowie die Weiterentwicklung der Grundbetreuung in den Leistungs- und Entgeltvereinbarungen.

Ein zentrales Thema der Tagung war die Stärkung der Demokratiebildung in stationären Einrichtungen. Fachreferentin Dr. Liane Pluto betonte in ihrem Impulsvortrag die Bedeutung der Partizipation junger Menschen und stellte erfolgreiche Praxisbeispiele zur Förderung demokratischer Strukturen in Einrichtungen der (teil-)stationären Erziehungshilfe vor. Es wurde diskutiert, wie Kinder und Jugendliche aktiv in Entscheidungsprozesse eingebunden und ihre Mitbestimmungsrechte gestärkt werden können. Besondere Bedeutung komme hierbei der Verknüpfung mit alltagsnahen Themen wie Mediennutzung, Extremismusprävention und politischer Bildung zu. Die Schule wurde als wichtiger Lernort für Demokratie hervorgehoben.

Im Anschluss wurde in verschiedenen Foren zentrale Fragestellungen der Einrichtungsleitungen behandelt, die im Anschluss im Plenum zusammengetragen und diskutiert worden:

  • Der Gruppenalltag ist politisch. Anknüpfungspunkte zur Stärkung von Demokratiebildung
    In diesem Forum wurde diskutiert, wo demokratische Bildung in der Jugendhilfe gelingt und wo nicht. Neben strukturellen Formen wie Heimräten und Gremien wurde betont, dass Demokratie vor allem in den alltäglichen Aushandlungsprozessen stattfindet. Entscheidend sind dabei die Haltung und das Demokratieverständnis der Fachkräfte, die junge Menschen zur eigenen Meinungsbildung befähigen sollen – eine Aufgabe, die bereits in der Ausbildung stärker verankert werden müsste.
  • Praxiseinblick: Selbstvertretung junger Menschen in Stuttgart
    Bei diesem Praxiseinblick stellten Stuttgarter Träger ihre Konzepte zur Selbstvertretung junger Menschen vor und zeigten: Beteiligung gelingt nur, wenn alle Mitarbeitenden eine Haltung der Ermöglichung teilen. Zwei junge Vertreter berichteten anschaulich von Erfolgen wie Mitbestimmung bei Mediennutzung und der Entwicklung verständlicher Materialien. Ziel ist es nun, Selbstvertretungen auch in die HzE-Konferenz und langfristig in den Jugendhilfeausschuss einzubinden.
  • Partizipation & Beteiligung – „Im und ums Kindersolbad“
    Nicole Meyer und Luisa Randaccio von der Kindersolbad gGmbH in Bad Friedrichshall zeigten in ihrem Forum anschaulich, wie Partizipation im Alltag ihrer Einrichtung gelebt wird. In einem Film berichteten Gruppensprecher*innen über ihre Mitwirkungserfolge, wie den selbstorganisierten Wintermarkt, den „all inclusive Ordner“ und die regelmäßig stattfindende „Be Ki Ju“, die Betriebsversammlung für Kinder und Jugendliche. Aktuell arbeitet das Selbstvertretungsgremium an der Weiterentwicklung des Beschwerdeverfahrens.
  • Radikal. Verstehen: Erkennen, Deuten und Handeln im Kontext von Radikalisierungsprozessen
    In diesem Forum gab die Fachstelle Extremismusdistanzierung einen Einblick in Ursachen und Dynamiken von Radikalisierung. Es wurden Handlungsmöglichkeiten für Fachkräfte aufgezeigt, um extremistische Tendenzen früh zu erkennen, zu deuten und präventiv gegenzusteuern. Ziel ist es, die Jugendhilfe als wichtigen Baustein für eine resiliente und demokratische Gesellschaft zu stärken.

Ein zentraler Programmpunkt des zweiten Tages war die Vorstellung des 17. Kinder- und Jugendberichts durch Volker Reif (Jugendhilfeplanung und -berichterstattung, KVJS-Landesjugendamt). Der Bericht hebt die Kinder- und Jugendhilfe als unverzichtbare soziale Infrastruktur hervor, warnt jedoch vor zunehmenden Belastungen und Grenzen der aktuellen Angebote. Themen wie Armutsgefährdung, Schulabbrüche, psychische Problemlagen sowie die Pluralisierung der Lebensrealitäten junger Menschen stehen im Fokus. Trotz ihrer Funktionsfähigkeit stehe die Jugendhilfe vor wachsenden Herausforderungen, insbesondere durch Fachkräftemangel und gesellschaftliche Ungleichheiten. Politik und Gesellschaft seien gefordert, stabile Rahmenbedingungen zu schaffen, um allen jungen Menschen unabhängig von Herkunft oder Status eine gerechte Teilhabe zu ermöglichen.

Christoph Grünenwald (Referatsleitung Grundsatz, KVJS-Landesjugendamt) gab einen Überblick über die geplanten Änderungen im Kinder- und Jugendhilfegesetz BW (LKJHG). Die Novellierung ziele darauf ab, die rechtlichen Rahmenbedingungen für Einrichtungen zu verbessern und die Inklusion sowie die Rechte junger Menschen zu stärken. Dazu gehöre eine stärkere Beteiligung von Kindern und Jugendlichen, die gesetzliche Anerkennung von Ombudschaften sowie neue Schutzvorgaben für Einrichtungen. Insbesondere richtete Herr Grünenwald den Blick auf den Einrichtungsbegriff nach § 45a SGB VIII und die Auswirkungen auf die Betriebserlaubnispflicht für familienähnliche Betreuungsformen.

Erich Staudenmaier, Leiter zentrale Dienste, Franz von Assisi Einrichtungen Ostwürttemberg betonte in seinem Ad-hoc-Beitrag eindrücklich die Bedeutung aktiver Lobbyarbeit für die Kinder- und Jugendhilfe. Anhand von Beispielen aus der Region wurde gezeigt, wie durch gezielte Kampagnen, Fakten und Erfolgsgeschichten politische Aufmerksamkeit und Anerkennung geschaffen werden kann. Als besonderes Highlight wurde der Kinofilm „Im Prinzip Familie“ vorgestellt. Eine authentische Hommage an die Heimerziehung und die Fachkräfte in der Jugendhilfe, der als wertvolles Instrument der Öffentlichkeitsarbeit empfohlen wurde. Teilnehmende wurden ermutigt, den Film aktiv zu bewerben und als Impuls für ihre eigene Lobbyarbeit zu nutzen.

Kathrin Kratzer (Jugendhilfeplanung und -berichterstattung, KVJS-Landesjugendamt) stellte aktuelle Daten zur stationären Erziehungshilfe vor. Die Zahl der stationären Maßnahmen sei um drei Prozent zurückgegangen, während sich die Zahl der Schulbegleitungen verdoppelt habe. Gleichzeitig führe der Mangel an Pflegefamilien zu einem Rückgang der Vollzeitpflege nach § 33 SGB VIII. Im Gegensatz dazu seien Unterbringungen in der stationären Erziehungshilfe nach § 34 SGB VIII um ein Prozent gestiegen. Der Fachkräftemangel bleibe eine der gravierendsten Herausforderungen.

Vor diesem Hintergrund stellte Heinz Müller vom Institut für Sozialpädagogische Forschung Mainz (ISM) gezielte Strategien vor, um die bestehenden Engpässe zu bewältigen und die Handlungsfähigkeit der Einrichtungen langfristig zu sichern. Zu den vorgeschlagenen Maßnahmen zählen kooperative Angebotsstrukturen mit einfachen Finanzierungsmodellen, sozialräumliche Ansätze anstelle weiterer Spezialisierungen sowie die Stärkung multiprofessioneller Teams. Zudem sollen digitale Lösungen zur Entlastung von Fachkräften beitragen. Um dem Fachkräftemangel zu begegnen, seien eine internationale Fachkräftestrategie und bessere Arbeitsbedingungen notwendig.

In der anschließenden Diskussion mit den Teilnehmenden wurden unter anderem folgende Ideen bzw. Ansatzpunkte festgehalten:

  1. Jugendämter und Träger entwickeln gemeinsam Zukunftsstrategien
  2. Planung in den Sozialräumen - rechtskreisübergreifend
  3. Soziale Infrastruktur weiterentwickeln
  4. Was brauchen wir an allgemeiner Standardisierung – auch für individuelle Lösungen?
  5. Was gehört zur Grundversorgung und was soll individuell bedarfsgerecht verfügbar sein?

Zum Abschluss der Tagung resümierte Michael Riehle mit der Frage „Was nehmen wir mit?“ die folgenden Punkte:

  • Wir müssen lauter und sichtbarer werden – Lobbyarbeit
  • Wir müssen gemeinsam mit öffentlichen Trägern unsere Wichtigkeit/unser Können an Entscheider heranbringen – Zahlen, Daten, Fakten, Storytelling
  • Wir müssen den Austausch zwischen freien und öffentlichen Trägern (auf regionaler Ebene) forcieren, z.B. durch Regionalkonferenzen und gemeinsame Tagungen
  • Wir müssen die Struktur des Rahmenvertrags beleuchten und über Änderungen/Umstrukturierungen, die eine zukunftsfähige Jugendhilfe ermöglichen, diskutieren
  • Wir müssen die anderen Rechtskreis dazu bringen, verbindlich mit uns zu kooperieren
  • Wir müssen weiterhin ein verlässlicher Partner für Sie sein und für Ihre Belange ein offenes Ohr haben und mit Ihnen – gerne auch kontrovers – diskutieren.
  • Und last but not least… Sie müssen bitte weiterhin optimistisch bleiben und sich weiter so engagiert und couragiert wie bisher um die Belange der Ihnen anvertrauten Kinder und Jugendlichen kümmern!

Die nächste Jahrestagung findet am 12. und 13. März 2026 in der Ev. Tagungsstätte Bad Boll statt.

Aktuelles aus dem KVJS-Landesjugendamt
Gerald Häcker, KVJS-Landesjugendamt

Entwicklungen in der Kinder- und Jugendhilfe
Michael Riehle, KVJS-Landesjugendamt

Weiterentwicklung Rahmenbedingungen der (teil-)stationären Kinder- und Jugendhilfe – Neues aus der Kommission Kinder- und Jugendhilfe (KKJH)
Benjamin Lachat 

Mehr als Beteiligung junger Menschen. Demokratiebildung in den (teil-)stationären Erziehungshilfen
Dr. Liane Pluto, DJI München

Eckpunkte aus dem 17. Kinder- und Jugendbericht
Volker Reif, KVJS-Landesjugendam

Novellierung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes für Baden-Württemberg (LKJHG)
Christoph Grünenwald, Referatsleiter Ref. 41, KVJS-Landesjugendamt

Empirische Schlaglichter auf aktuelle Entwicklungen in der (teil-)stationären Erziehungshilfe in Baden-Württemberg
Kathrin Kratzer, KVJS-Landesjugendamt

Krise in der stationären Erziehungshilfe? – Zukunftsfähige Strategien
Heinz Müller, Sozialpädagogisches Forschungsinstitut Mainz (ism)