Expertenhearing zum Fachkräftebedarf in der
Kinder- und Jugendhilfe am 31. Januar 2020

Großes Interesse am landesweiten Fachtag zeigt die Aktualität des Themas

Zur Sicherung der Angebote der Kinder- und Jugendhilfe ist es notwendig, den zukünftigen Fachkräftebedarf möglichst gut abzuschätzen und Strategien zur Fachkräftegewinnung zu entwickeln. Im Auftrag des Landesjugendhilfeausschusses sollte der KVJS die Faktenlage für Baden-Württemberg prüfen und herausarbeiten, ob und wie es möglich ist, eine belastbare Vorausschätzung als Grundlage der künftigen Strategie zur Ausbildung und Gewinnung von Fachkräften zu erarbeiten. Expertinnen und Experten aus Politik, Bildungsinstitutionen und der Kinder- und Jugendhilfe stellten am 31. Januar 2020 im Hospitalhof in Stuttgart ihre derzeitigen Erkenntnisse vor.

Sehr gut besuchte Veranstaltung

„Ihr großes Interesse an diesem Fachtag zeigt die Aktualität des Themas, vermutlich aber mehr noch die Größe der Herausforderung, die mit dem Thema einhergeht. Diese Herausforderung spüren Sie wahrscheinlich auch im Alltag schon seit geraumer Zeit, wenn Sie Fachkräfte suchen.“ Mit diesen Worten begrüßte Dieter Steck, stellvertretender Verbandsdirektor des KVJS, die rund 120 Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Fachtags. „Ein Ziel des heutigen Tages wird es sein, herauszufinden, ob sich der zukünftige Bedarf an Fachkräften mittelfristig oder langfristig verlässlich abschätzen lässt, um über eine solide Datenbasis als Diskussionsgrundlage zu verfügen.“

KVJS greift zentrales Thema auf

Dr. Joachim Fiebig, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Team Jugendhilfeplanung des KVJS-Landesjugendamtes, präsentierte eine Kurzanalyse zum Fachkräftebedarf für die Kinder- und Jugendhilfe. „Im kommenden Jahrzehnt werden sich die Zahlen der potenziell Erwerbstätigen in Baden-Württemberg von 6,49 Mio. im Jahr 2020 auf 6,05 Mio. im Jahr 2030 reduzieren. Auch die Zahl der künftigen Arbeitskräfte (20- bis 25-Jährige) wird sich bis zum Jahr 2030 sehr stark verringern (ca. –13 %). Die Konkurrenz um Fachkräfte in allen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bereichen wird also steigen. Lassen sie uns heute gemeinsam die Weichen stellen, um Strategien zu entwickeln, mit denen wir die erforderlichen Fachkräfte ausbilden, akquirieren und binden können! Diese Fachkräfte sind es letztlich, die sich wie Sie und wir Tag für Tag dafür einsetzen, die Teilhabechancen gerade der benachteiligten jungen Menschen zu wahren. Und nur so können lebenswerte Perspektiven für jeden einzelnen jungen Menschen aber auch die Fachkräfte von morgen in Summe gesichert werden“. Diese einleitenden Worte lieferten die Gesprächsgrundlage für das anschließende Expertenhearing. Das Expertenhearing moderierte Renate Allgöwer, Journalistin der Stuttgarter Zeitung und Stuttgarter Nachrichten.

Akutes Problem wird sich
mittelfristig deutlich verschärfen

„Rechtsansprüche sind gut und schön, aber was ist, wenn keiner mehr da ist, der Kinder und Jugendliche betreut? Wurden die letzten Jahre verschlafen, dass so eine Situation eintreten konnte?“ Mit diesen Fragen an die landespolitischen Vertreterinnen und Vertreter startete das Expertenhearing. Ministerialdirigent Vittorio Lazaridis, der im Kultusministerium die Abteilung „Allgemein bildende Schulen und Elementarbildung“ leitet und Ministerialrätin Marion Deiß, Leiterin des Referats „Jugend“ des Sozialministeriums, stellten sich den Fragen. „Viele Kolleginnen und Kollegen aus dem Bereich der Kindheitspädagogik verlassen diesen, da sie keine Aufstiegschancen haben. Der Fachkräftemangel gilt für die gesamte Kinder- und Jugendhilfe.“ Mit diesen Worten richtete sich Marion Deiß an die Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Aus ihrer Sicht müssen die Berufe attraktiver werden und man müsse dafür werben, dass mehr Mädchen und Jungen in die Kinder- und Jugendhilfe gehen und sich dort beruflich einbringen. Vittorio Lazaridis ergriff daraufhin das Wort „Mit der staatlich anerkannten praxisintegrierten Ausbildung (PiA) haben wir ein Instrument, das wir nutzen können. Wir haben versucht, die Attraktivität der PiA zu steigern und Ausbildungspauschalen zur Verfügung zu stellen. Von 100.000 Beschäftigten steigt allerdings pro Jahr rund ein Prozent aus diesem Bereich aus. Wie kann das sein? Wie schaffen wir es, die Bedingungen vor Ort zu verbessern? Die Wertschätzung der Arbeit muss nach vorne gerichtet werden.“ Die Fragen, ob ein Monitoring zur Fachkräfteentwicklung eingerichtet werden müsse und ob es beim Fachkraftthema insgesamt einer interministerieller Schnittstelle bedürfe, beantworteten beide mit einem entschiedenen Ja.

In einigen Feldern können notwendige Einrichtungen
und Dienste nicht mehr angeboten werden

Die Lage aus Sicht der kommunalen Landesverbände beurteilten Steffen Jäger (Erster Beigeordneter des Gemeindetages, Benjamin Lachat (Dezernent des Städtetages im Dezernat „Jugend, Familie, Soziales, Pflege und Gesundheit, Arbeit und Beschäftigung“) und Dietmar Herdes (Dezernent des Landkreistages im Dezernat Arbeit, Soziales und Teilhabe). Steffen Jäger stellte seine Sicht der Dinge dar: „Die damalige Einschätzung war, dass die Kinderzahl insgesamt rückläufig ist. Diese Annahme trifft spätestens seit 2014 nicht mehr zu.“ Er betonte, man müsse ausbilden, soviel wie man noch nie ausgebildet habe. „Für die Zeit in der wir es nicht schaffen, genügend Fachkräfte zu finden, müssen wir eine vernünftige Lösung finden, um diese Mangelsituation zu bewältigen.“­

Aus Sicht des Städtetages kam Benjamin Lachat zu dem Schluss, dass grundlegende Probleme beim Personalmangel auch als solche benannt werden müssen. Um zu Lösungen zu gelangen, müsse vor Ort diskutiert werden – in den 1101 Städten und Gemeinden in Baden-Württemberg. Renate Allgöwer richtete sich anschließend an Dietmar Herdes, der die Sicht der Landkreise in Bezug auf den Fachkräftemangel darstellte. Aus seiner Sicht herrschen in der Jugendhilfe sehr große Probleme bei der Personalgewinnung. Viele junge Menschen verlassen oft den Arbeitsbereich, da sie überfordert sind und die große Verantwortung nicht tragen können oder wollen.

Hochschulen und Fachschulen könnten mehr ausbilden
aber müssen Bewerber abweisen

Den Blick aus Sicht der Freien Träger, aus Sicht des Arbeitsmarktes und aus Sicht der Ausbildungsebene lieferten Michael Spielmann (LIGA der freien Wohlfahrtspflege in Baden-Württemberg e. V.), Ruth Weckenmann (Leiterin des Stabs Chancengleichheit am Arbeitsmarkt bei der Regionaldirektion Baden-Württemberg der Bundesagentur für Arbeit), Prof. Dr. Regine Morys (HS Esslingen), Prof. Dr. Matthias Moch (DH-BW Stuttgart) sowie die Vertretung der Fachschulen, Dr. Michael Klebl (katholische Fachschule für Sozialpädagogik). Michael Spielmann kritisierte, man diskutiere nur über den Bereich der Tageseinrichtungen für Kinder. Aber auch in den anderen Feldern der Kinder- und Jugendhilfe habe man einen Personalmangel – man könne sogar schon von einem Personalnotstand sprechen. Ruth Weckenmann nahm zur Sicht des Ausbildungsmarktes Stellung. In Bezug auf die Rahmenbedingungen eines Arbeitsplatzes im sozialen Bereich würden verlässliche Kinderbetreuungsmöglichkeiten eine ganz entscheidende Rolle spielen. Hochkomplizierte Ausbildungswege im erzieherischen Bereich mit langer Ausbildungsdauer seien schwer zu vermitteln, obwohl motivierte und geeignete Interessenten vorhanden wären.

Aufseiten der Hochschulen gab Prof. Dr. Regine Morys einen Einblick in die Faktenlage. „Seit 2012 stagniert der Ausbau von Studienplätzen landes- und bundesweit. Bei steigenden Fachkräftezahlen sind die Studierendenzahlen gleichgeblieben. Die Bewerberzahlen sind hoch. Auf 35 verfügbare Plätze pro Jahr im Studiengang Kindheitspädagogik (HS Esslingen) kommen 500 Bewerbungen. In der sozialen Arbeit ist es ähnlich. Die Studiengänge müssen ausgebaut werden. Enge Zulassungsbeschränkungen führen dazu, dass potenzielle Bewerberinnen und Bewerber gar keine Chance auf eine Zulassung haben.“ Prof. Dr. Matthias Moch von der DH-BW Stuttgart bezog sich auf die Ausbildung zur Sozialarbeiterin und zum Sozialarbeiter im Bereich der Erziehungshilfen. Er spricht von einer „Kanibalisierung“ der sozialen Arbeit untereinander. Die attraktiveren Bereiche würden den weniger attraktiven die Stellen nehmen. Eine Flexibilisierung des Hochschulapparates sei ebenfalls nötig, um im Bereich der Nachqualifizierung Möglichkeiten anzubieten.

Der Vertreter der staatliche anerkannten freien Fachschulen, Dr. Michael Klebl, nahm Stellung zu der Aussage, die Fachschulen würden hinten runter fallen, weil die Ausbildung zu lange dauere, man bekomme kein Geld dafür. „Die Ausbildungseinrichtungen liefern 80 Prozent der Fachkräfte (…) Viel erreicht haben wir in der Reform der Ausbildung zur Erzieherin/zum Erzieher mit der PiA.“ Die klassische Klientel, Schulabgängerinnen und Schulabgänger mit einem mittleren Bildungsabschluss, die eine Erstausbildung machen möchte, sei vergessen worden. Eine Hürde sei außerdem das einjährige unbezahlte Berufskolleg, das man vorschalten müsse.

Bereichsspezifisches Workshop-Angebot

Unter dem Motto „Handlungsfähigkeit sichern und ausbauen!“ standen vier Workshops, die im Anschluss an das Expertenhearing den Teilnehmerinnen und Teilnehmern die Möglichkeit gaben, selbst zu Wort zu kommen und ihre Einschätzungen näherzubringen. Die vier Themenfelder Jugendämter, Kindertagesbetreuung, Jugendarbeit und Jugendsozialarbeit sowie erzieherische Hilfen wurden von den Jugendhilfeplanerinnen und -planern des KVJS-Landesjugendamtes präsentiert. Gute Rahmenbedingungen schaffen, um das Personal langfristig zu binden, unbefristete Stellen und die Personalpolitik an die Wirklichkeit der Lebensverhältnisse anpassen – diese Punkte waren in allen Workshops Thema.

Unterlagen

Workshop 1: Jugendämter
Dr. Ulrich Bürger (KVJS-Landesjugendamt)

Workshop 2: Jugendarbeit/Jugendsozialarbeit
Volker Reif (KVJS-Landesjugendamt)

Workshop 3: Hilfen zur Erziehung
Kathrin Kratzer (KVJS-Landesjugendamt)

Workshop 4: Kindertageseinrichtungen
Dr. Joachim Fiebig (KVJS-Landesjugendamt)